15 Oktober 2017 - Predigt anlässlich der ökumenischen Vesper in der Christuskirche zu Rom

Kardinal Marc Ouellet

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Predigt in der Christuskirche zu Rom am 15. Oktober 2017

 

Sehr geehrter Herr Bischof Dröge, lieber Bruder,

verehrter Herr Pfarrer Kruse,

liebe Schwestern und Brüder in Christus, dem Herrn!

 

Ich danke den Vertretern der Guardini-Stiftung wie der Stiftung St. Matthäus, aber vor allem auch Herrn Pfarrer Kruse und den Gläubigen der evangelisch-lutherischen Gemeinde Roms für die brüderliche Einladung, an diesem Abend mit Ihnen in das Lob Gottes einzustimmen. Es berührt mich, und ich weiβ diese Geste sehr zu schätzen, dass sich unser ökumenisches Abendlob gleichsam am Vorabend des 500. (fünfhundersten) Jahrestages des Beginns der Reformation erhebt.

Es ist für mich ein Besuch bei „Verwandten“, ich komme zu Ihnen als Bruder und Freund, der sich mit Ihnen  gemeinsam unter das Wort Gottes stellt.

Aus dem Markusevangelium haben wir gehört, wie Jesus auf die Frage des Schriftverständigen das Hauptgebot der Liebe aus dem fünften Buch Mose wachruft, das „Sch’ma Jisrael“, das bis heute den Kern des täglichen Morgen- und Nachtgebetes unserer älteren Schwestern und Brüder, der Juden, ausmacht: „Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Darum sollst Du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit deinem ganzen Denken und mit deiner ganzen Kraft“ (Dtn 6,4f). Und er ergänzt es um ein zweites Zitat: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (Lev 19,18).

Dieses gröβte unter allen Geboten ist nichts äußerlich-formales, sondern innerlich-existential; es zielt auf das Herz des Menschen, will dort, in der Mitte seines Daseins, wohnen, wie uns der Kontext des alttestamentlichen Zitats deutlich macht: „Diese Worte […] sollen auf deinem Herzen geschrieben stehen“ (Dtn 6,6), heiβt es dort nämlich weiter. Und wie sehr diese alles überragende Gottesliebe, die Jesus untrennbar und für immer mit der Liebe zum Nächsten verbindet, die ganze Existenz des Menschen erfassen und sich in seinem Leben widerspiegeln soll, buchstabiert das Buch Deuteronomium dann geradezu durch: „Diese Worte“ sollst du „deinen Kindern wiederholen. Du sollst sie sprechen, wenn du zu Hause sitzt und wenn du auf der Straße gehst, wenn du dich schlafen legst und wenn du aufstehst. Du sollst sie als Zeichen um das Handgelenk binden. Sie sollen zum Schmuck auf deiner Stirn werden. Du sollst sie auf die Türpfosten deines Hauses und in deine Stadttore schreiben“ (Dtn 6,7-9). Die Gottesliebe soll alles durchdringen, prägen, von innen her ergreifen und verwandeln.

Liebe Brüder und Schwestern, dieses wichtigste aller Gebote ist zugleich auch das erste von allen, das Grundgebot, wenn Sie so wollen. Von ihm her erst erschließen sich alle anderen Gebote, denn sie entspringen aus der Liebe zu Gott und zum Nächsten. Das gilt auch, ja insbesondere, für jenes Gebot, mit dem sie diese Tage der Auseinandersetzung mit dem Dekalog überschrieben haben: „Du sollst nicht töten“ (Dtn 5,17). Wie kann ein Mensch töten den er liebt? Und wenn ihn die Liebe zum Nächsten nicht davon abhält, weil er sie nicht empfindet, dann muss ihm die Liebe zu Gott Einhalt gebieten. Und in diese Liebe hat Jesus alle eingeschlossen, ausnahmslos, bedingungslos - auch unsere Feinde.

Du sollst nicht töten“ – was uns als Christen auf den ersten Blick selbstverständlich erscheint, ist doch das „Gebot der Stunde“, jeder Weltstunde – wie uns schon die ersten Seiten der Heiligen Schrift mit dem Brudermord drastisch vor Augen führen - aber besonders das Gebot unserer Stunde. Und es ist umso wichtiger, dass wir als Schwestern und Brüder des einen Herrn dieses Wort Gottes gemeinsam wieder und wieder selbst hören, um es einmütig und unermüdlich in die Welt zu bezeugen: „Du sollst nicht töten“. Wie sehr bedarf unsere Zeit dieses Wortes, wie sehr bedarf diese Weltstunde der Barmherzigkeit, der Versöhnung und des Friedens! Wahrhaftig, die Welt ist gegenwärtig so sehr durch vielfache absurde Aggressionen und Konflikte aufgewühlt und verdunkelt. Ungezählte werden hingerafft durch den Wahn von Krieg und Terror, in denen der Mensch immer aufs Neue, tausendfach, zum Mörder seines Bruders wird. Aber auch für andere menschliche Dramen, die sich vor unseren Augen abspielen, gilt was Gott im Buch Genesis zu Kain sagt: „Was hast du getan? Das Blut deines Bruders erhebt seine Stimme und schreit zu mir vom Erdboden“ (Gen 4, 10). Denn das menschliche Leben ist nicht nur in Gefahr, wo Waffen töten, sondern auch dort, wo das Leben am Anfang und am Ende in die Hände von Menschen gerät, die es nicht behüten, sondern es auslöschen: Ich nenne die Abtreibung, die sogenannte „Sterbehilfe“ oder den „assistierten Suizid“, aber auch die Todesstrafe. Es sind Realitäten, die Gottes heiliges Gebot verletzen. Es sind Taten, vielmehr Untaten, die nicht nur die Opfer töten, sondern auch die Liebe und letztlich das Lebendige in den Herzen der Täter, aber auch jener, die das Töten billigen.

Schwestern und Brüder, ein Christ darf sich daran nicht gewöhnen und kann darüber nicht gleichgültig bleiben! „Du sollst nicht töten“!

Ich bin Papst Franziskus sehr dankbar, dass er am vergangenen Donnerstag in diesem Sinne unmissverständliche Worte zur Todesstrafe gefunden hat, die auch für die anderen genannten Bereiche zutreffen. Ich zitiere: „Die Todesstrafe ist eine unmenschliche Maßnahme, die – wie auch immer sie ausgeführt wird – die Würde des Menschen herabsetzt. Sie widerspricht in ihrem Wesen dem Evangelium, weil sie willentlich entscheidet ein menschliches Leben zu beenden, das in den Augen des Schöpfers immer heilig ist und dessen wahrer Richter und Garant im Letzten allein Gott ist. Kein Mensch, nicht einmal der Mörder verliert seine Menschenwürde“[1] [Zitat Ende].

Wir stehen hier mitten in einer tiefgreifenden geistigen Auseinandersetzung, der wir uns als Christen gemeinsam stellen müssen. Es geht um das Menschsein als Ganzes, um unsere unverbrüchliche Würde, die darin wurzelt, dass Gott uns nach seinem Ebenbild geschaffen hat, und die ihre höchste Vollendung dadurch empfängt, dass Gott in Jesus Christus Mensch geworden ist - schutzlos, verletzlich, und schließlich verraten, ausgeliefert, gequält und hingerichtet. Jesus hat an seinem eigenen Leib die Missachtung der Gebote Gottes erduldet, bis hinein die ärgste Übertretung am Kreuz, an dem sein unschuldiges Blut vergossen wurde, „das mächtiger ruft als das Blut Abels“ (Hebr 12,24).

Aber gerade dieses, ihm von Menschenhand bereitete grausame Ende, setzt einen neuen Anfang: setzt einen Anfang des Lebens im Tod, einen Anfang der Vergebung in der Schuld, einen Anfang der Einheit in der Trennung, einen Anfang der Heilung in den Wunden. Das Kreuz kann diese Kraft entfalten, weil Jesus es freiwillig angenommen hat, weil er sich selbst hingegeben hat – aus Liebe zu Gott und zum Menschen. Und in diese Selbsthingabe schließt er alle ein, ausnahmslos, um die ganze Menschheit, ja die gesamte Schöpfung von innen her zu verwandeln durch die Kraft einer grenzenlosen Barmherzigkeit und unbedingten Liebe, die alles bisher Dagewesene maßlos übersteigt, so dass der Epheserbrief im Blick auf das Kreuzesopfer Jesu bezeugt: „Er hat in seiner Person die Feindschaft getötet“ (Eph 2,16b), weil er bis zur Vollendung geliebt hat (vgl. Joh, 13,1). Darum kann er das Hauptgebot der Liebe am Abend vor seinem Leiden neu formulieren: „Liebt einander, so wie ich euch geliebt habe“ (Joh 15,12).

Liebe Schwestern und Brüder, unser Leben als Christen ist Antwort auf diese Liebe. Lasst uns die Liebe wiederlieben! Lassen wir heute Jesu Gebot neu in unsere Herzen schreiben – und entdecken, dass es dort immer schon gewohnt hat, weil wir sein Bild in uns tragen! Mehr denn je sind die Christen aller Konfessionen heute herausgefordert, der Welt dieses Zeugnis der Liebe zu geben, einer leidenschaftlichen, hingebungsvollen, ja auch kämpferischen Liebe, die alle Bereiche des menschlichen Lebens erfassen will: angefangen in unseren Familien, in der Arbeitswelt, in der Wissenschaft, in den Bereichen von Kunst und Kultur, durch die Vielfalt der sozialen Kommunikationsmittel ... . Wir hören, dass die Welt seufzt; wir sehen, dass die Schöpfung ächzt. Sie wartet auf eine neue „ökumenische Zivilisation der Liebe“.

Und wir haben dazu die Ressourcen: im Geheimnis des Todes und der Auferstehung Jesu, in seiner maßlosen Liebe. Das sind die Ressourcen, die uns allen anvertraut sind – Gott sei Dank sind sie unerschöpflich! Wir brauchen darum nicht zu streiten. Im Gegenteil: Gerade an diesen Quellen kommt es zur tiefen Begegnung, Verständigung – und Versöhnung. Ja, in den Quellen berühren wir die ursprüngliche Einheit.

Lassen Sie mich schließen, liebe Brüder und Schwestern, indem ich Ihnen ein inneres Bild vorlege, das seit dem Jahr 2012 (zweitausend/und/zwölf) mit mir geht, und in dem ich die Quelle unseres Glaubens und unsere Einheit buchstäblich berühren durfte. Ich hatte die Freude und Ehre, im Auftrag des Papstes in der Trierer Domkirche die Heilig-Rock-Wallfahrt zu eröffnen, die sich auf eine Tradition gründet, die bis auf Kaiserin Helena zurückgeht. Gezeigt wird eine antike Tunika, die mit dem Untergewand des Herrn verbunden wird, von dem der Evangelist Johannes berichtet, dass es „ohne Naht von oben ganz durchgewoben“ (Joh 19,23b) war, und dass die Soldaten es nicht zerteilten. Unabhängig von der Frage der historischen Echtheit der Tunika, führt diese Wallfahrt in eine tiefe Begegnung mit dem Herrn und mit seiner Passion. - Das ungeteilte Gewand des Erlösers: Zeugnis seiner Liebe zu uns und „Stoff“ unserer Einheit!

Das Pilgergebet, das aus Anlass dieser Christus-Wallfahrt gebetet wird, ist kurz und prägnant. Gerade in diesem besonderen Jahr spreche ich es in der intensiven Bitte, dass Er uns neu mit dem ungeteilten Gewand Seiner Liebe bekleide:

 

Jesus Christus, Heiland und Erlöser,
erbarme dich über uns und über die ganze Welt.

Gedenke deiner Christenheit 

und führe zusammen, was getrennt ist“. Amen.


 

[1] Ansprache zum 25. Jahrestag der Veröffentlichung des Katechismus der Katholischen Kirche, Synodenaula, 11. Oktober 2017.